Vom Morgenkaffee bis zum Opferlamm – heute geht es um Rituale

Was denkst du, wenn über Rituale gesprochen wird? An das vielzitierte „Katzenopfer auf dem Friedhof“? Oder an so banale Dinge wie „Ich brauche meinen Morgenkaffee“?


Experiment:

Wie beginnst du deinen Tag? Hast du Morgenrituale? Überlege kurz, erst dann lies weiter.

Wenn du dir deinen Morgen bildlich vorgestellt hast, habe ich hier noch einige
Beispiele für potentielle Morgenrituale:
– Den Wecker zwei mal weiter stellen
– Morgengebet / Meditation
– Traum aufschreiben
– Zähneputzen, waschen, duschen
– in den Spiegel grummeln / lächeln
– Kaffee runterkippen / trinken
– mit dem Fahrrad / Auto zur Arbeit hetzen / fahren
– hoppladihopp / ausgiebig frühstücken
– Zeitung lesen
– Frühsport
– den großen Toilettengang machen
– von jedem Familienmitglied mit einem Kuss verabschieden
– mit dem Hund gehen / die Katzen streicheln
– Teepause im Büro

Mein Tipp:

Ich bin absolut kein Morgenmensch. Aber selbst ich habe irgendwann erkannt,
dass es keinem nützt, wenn ich jeden Morgen den Spiegel angrummel. Viel schöner ist es, nicht zu hetzen und Zeit für die Familie zu haben, auf dem Weg zur Arbeit die schönen Dinge auf dem Weg wahrzunehmen. Lächelnd und dankbar beginnt der Morgen dann mit diesen veränderten Ritualen und Sichtweisen auch für eingefleischte Spätaufsteher wie mich gut.

alltägliche Rituale – kurz erklärt:

Rituale im Alltagsleben geben psychologisch gesehen Schutz, Orientierung und
ein Zugehörigkeitsgefühl. Es gibt persönliche Rituale (z.B. immer zwei mal
schauen, ob die Tür wirklich zu ist) und Rituale des Miteinanders (z.B. den
Hallo-Gruß).

Folgendes anderes Beispiel dazu: Die gesamte Familie schaut jeden Abend um 20 Uhr gemeinsam die Tagesschau. Damit wird der Zusammenhalt gefördert, der
zeitliche Ablauf des Abends strukturiert und das Abendessen abgeschlossen.
Fällt das Fernsehprogramm aus, fehlt dieses Ritual und damit auch der
Zusammenhalt und die Struktur. Dann „fehlt etwas“.

Solche oder ähnliche Rituale gibt es in jeder Kultur. Sie sind fester
Bestandteil des Individuums und des menschlichen Miteinanders und sie fördern
den Gruppenzusammenhalt. Insbesondere, wenn den Sinn von Regeln (noch) nicht begriffen und verinnerlicht wird, helfen die Rituale, z.B. bei kleinen Kindern.

Warum ist das so?

Ein Ritual läuft immer nach vorgegebenen Regeln ab. Die Handlung ist
strukturiert und weist einen hohen Symbolgehalt auf. Es geht nicht nur um die
reine Handlung an sich („den Fernseher um 20 Uhr anschalten“), sondern darüber
hinaus um den Sinnzusammenhang („Familie kommt zusammen, Essen ist vorbei, Abend wird eingeläutet“). Damit vereinfacht das Ritual das Leben und vermittelt Halt und Orientierung (Der Vater muss nichts weiter sagen, die Kinder wissen sofort Bescheid). Bei Veränderungen helfen Rituale zudem bei Entscheidungsfindung und Kommunikation.

Daneben können Rituale auch sehr formell oder feierlich sein, bestimmte Worte
oder Gesten benutzen und an Orte gebunden sein, wie z.B. beim Vaterunser in der Kirche. Rituale können religiös/mythologisch oder weltlich sein. Auch im Tierreich gibt es Rituale, z.B zur Klärung sozialer Rangordnungen. Hier vermeiden z.B. Schaukämpfe statt richtiger Kämpfe mögliche Verluste innerhalb der Gruppe.

Ja aber..

ich dachte immer, Rituale sind etwas besonderes, wie in der Kirche oder bei so
genannten „Übergängen“ und nichts alltägliches wie Kaffee trinken.

Im Leben eines Menschen gibt es viele große Veränderungen. Manche sind gewollt oder geplant, wie z.B. ein Umzug oder eine Hochzeit. Manche sind ungewollt oder kommen überraschend, wie z.B. eine Kündigung oder eine Trennung. Durch diese großen Veränderungen werden wir gezwungen, uns aus unserer Komfortzone herauszubewegen. Aus dem gewohnten Alltag wird eine neue, erst einmal nicht alltägliche Wirklichkeit.

Jeder Mensch reagiert individuell unterschiedlich auf diese großen Veränderungen im Leben. Während der eine sich schnell an die neuen Gegebenheiten anpassen kann, macht der andere eine länger andauernde Bewältigungsphase durch und muss vielleicht sogar eine Anpassungsstörung psychologisch behandeln lassen.

Rituale helfen, den Alltag des bisherigen Lebensabschnitts zu würdigen und zu verabschieden. Und gleichzeitig einen neuen, guten Weg in deinem neuen Lebensabschnitt zu erkennen. Sie geben dabei die notwendige Sicherheit und Orientierung und können auch das Zugehörigkeitsgefühl fördern. Wichtig dabei ist auch die Tatsache, dass der Mensch sich, seinem Körper und seinem Geist die neue Richtung klar zu erkennen gibt.

Beispiele für diese „lebenszyklischen“ Rituale sind: Geburt, Taufe, Kommunion, Erwachsenwerden, Führerschein, Schul-/Studienabschluss, Hochzeit, Ortsveränderung, Grundstückskauf, Geschäftseröffnung, Trennung, Eintritt in das Rentenalter, Tod eines nahen Verwandten oder eines Haustieres

Herausforderung: entwickle ein neues persönliches Ritual

Jeder hat die Möglichkeit, nach seinen Vorstellungen ein neues Ritual für eine bestimmte Situation in seinem Leben zu gestalten. Dies machen viele automatisch anhand der gesellschaftlich vorgegebenen Normen, z.B. Babypinkeln als Willkommens- und Aufnahemeritual in die Gemeinschaft der Familie. Rituale können darüber hinaus auch zum Ausdruck des menschlichen Selbstbewusstseins werden. In Ritualen, z.B. Mantren, kann sich der Mensch symbolisch mit Grundfragen der menschlichen Existenz auseinandersetzen. So z.B. mit dem Bedürfnis nach zwischenmenschlicher Beziehung, dem Wissen um die eigene Sterblichkeit oder dem Glauben an eine transzendente Wirklichkeit.

Hast du eine Idee für ein Ritual, dass du neu in dein Leben integrieren möchtest? Ideen für Abends: Review (was war heute toll?), zum  Übergang von der Couch ins Bett (Zähne putzen), zum Einläuten des Feierabends (Jogginghosen anziehen).

für Fortgeschrittene: Der Schatten der Rituale

Welche Nachteile können Rituale haben? Denke kurz nach, bevor du weiter liest.

Es kommen ein paar Beispiele.
Hergebrachte Rituale werden in unserer Gesellschaft als überholt empfunden. Der dahinterliegende Symbolgehalt wird nicht mehr erkannt, so wird z.B. die Eheschließung als notwendiges Übel rasch hinter sich gebracht, um sich materiell abzusichern. So kann kein leichter Abschluss mit dem bisherigen Leben und kein einfacher Übergang in ein neues stattfinden. Das einstige Ritual ist sinnentleert worden.

Gleichzeitig kann der Mensch nicht ohne Rituale existieren. Daher finden sich in der modernen Gesellschaft viele neue Rituale wie z.B. der Sport, der Personenkult, die Jugendkultur und die Werbung.

Fernsehen an sich ist ebenfalls schon ein Ritual geworden. Fernsehen inszeniert eine Wirklichkeits-Simulation. Beispielsweise spiegeln die Nachrichten nicht die Realität ab, sondern sind eine publikumswirksam zusammengestellte Darstellung.

In der Politik haben die Nationalsozialisten im zweiten Weltkrieg viel mit Symbolen und Ritualen gearbeitet (z.B. die symbolische Bücherverbrennung).

Aber auch heute finden wir in der Politik statt notwendigem politischen Handeln oft nur symbolische Rituale, wie z.B. öffentlichkeitswirksame Auftritte, und Ankündigungen (auch auf Twitter). Es wird nur der Eindruck erweckt, dass etwas getan wird. In der demokratischen Politik ist oft Öffentlichkeitswirkung wichtiger als Problemlösung

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